(aus: ai-JOURNAL
vom März 2004) MEXIKO:
Frauenmorde im Niemandsland Seit elf Jahren bleiben
die Morde hunderter junger Frauen an der Nordgrenze Mexikos ungesühnt. Vieles
spricht dafür, dass mächtige Drogenkartelle, Polizei und Politiker in die
Morde verwickelt sind. Es sei vor allem das
"gesteigerte internationale Interesse" an den Frauenmorden in der
nordmexikanischen Grenzstadt Cuidad Juárez, das die Regierung zu einer
"neuen Haltung" bewegt habe, räumt die neue Sonderbeauftragte
Guadalupe Morfín im Gespräch ein. Seit November letzten Jahres ist die
Juristin offiziell für "die Prävention und Eliminierung der Gewalt gegen
Frauen in Ciudad Juárez" zuständig. Am guten Willen der renommierten
Menschenrechtsanwältin zweifelt in Mexiko kaum jemand. Zweifelhaft scheint
vielen jedoch, ob das ausreicht, um die Mörder der 375 Frauen, deren Leichen
seit 1993 im Umland von Juárez gefunden wurden, auch wirklich dingfest zu
machen. "Die Gute hat ja nichts als ihr Flugticket in der Hand",
kommentierte etwa der Anwalt Sergio Dante Almarez die Ernennung. Tatsächlich
verfügt Guadalupe Morfín bislang über kein festes Budget, kein eigenes Büro
und hat für ihre Arbeit gerade mal ein Team von 18 Mitarbeitern zur
Verfügung. Bislang wurde ihr zudem keine Einsicht in die Ermittlungsakten der
Mordfälle gewährt. Nach einem aktuellen
ai-Bericht starben knapp vierhundert Mädchen und junge Frauen in der rasant
wachsenden Drogenmetropole Juárez seit 1993 eines gewaltsamen Todes. Weitere
vierhundert Frauen gelten derzeit noch als verschwunden. Wie viele der
Frauenleichen, die im Wüstensand, auf Müllhalden oder in Abbruchhäusern
gefunden wurden, zu den "Feminicidios" - den durch Frauenhass
motivierten Massenmorden - zu zählen sind, ist umstritten. Dem ai-Bericht
zufolge erlitten 140 der Toten sexuelle Misshandlungen, 75 waren so stark
entstellt, dass sie nicht mehr identifiziert werden konnten. Knapp hundert
Leichen wiesen Spuren sexueller Folterung auf: die Körper waren nackt, Brüste
und Geschlecht verstümmelt, die Haut mit seltsamen Schnitten markiert, manche
waren teilweise skalpiert, viele trugen Würgemale. Bemerkenswert ist auch,
wie ähnlich sich die ermordeten Mädchen waren: fast alle waren unter 20 Jahre
alt, zart gewachsen, mit langem Haar und auffällig attraktiv. "Dieser
Frauentyp ist offenbar gezielt 'bestellt' und ausgesucht worden. Das ist wie
bei gestohlenen Autos, die werden auch nach Marke vorbestellt", meint
der Fotograf Miguel Perea, der seit über zwanzig Jahren Gewaltverbrechen in
Juárez fotografiert. Ein weiteres Merkmal der
Opfer ist ihre Armut. Keines der Mädchen hatte ein Auto, alle legten weite
Wege zu Fuß oder mit dem Bus durch die zersiedelte Stadtlandschaft zurück.
Ein Teil der Mädchen arbeitete in einer der rund 300 um die Stadt
angesiedelten Weltmarkt-Fabriken, den "Maquiladoras". Andere waren
Hausangestellte oder Straßenhändlerinnen, wieder andere wurden auf dem Weg
zur Abendschule oder zum Computerzentrum verschleppt. Lange Jahre haben die
Behörden der Provinz Chihuahua jeden Zusammenhang zwischen den Leichenfunden
geleugnet, die Mordserie als "normale" Kriminalitätsquote tituliert
oder ein Selbstverschulden der Opfer suggeriert, die ein allzu
"freizügiges" Leben geführt hätten. Doch auch als der Charakter der
Serien- und Sexualmorde unübersehbar wurde, wurden die Ermittlungen in
skandalöser Weise verschleppt. Die Spuren- und Tatortsicherung blieb oftmals
mehr als mangelhaft. Fundstellen wurden nicht markiert. DNA- Analysen
jahrelang unter Verschluss gehalten, Zeugenaussagen ignoriert und Leichen
falsch identifiziert. "Viele Beweise sind so für immer verloren
gegangen", sagt der forensische Kriminologe Oscar Maynez. Er leitete im
November 2001 die Untersuchung von acht weiblichen Leichen, die in einem
brachliegenden Feld gefunden wurden. "Kaum hatten wir angefangen,
mussten wir schon wieder aufhören." Die Order von oben lautete: die
Fälle sollten schleunigst abgeschlossen und Schuldige gefunden werden. Drei
Tage später saßen zwei Busfahrer im Gefängnis, die ein "umfassendes
Geständnis" abgelegt hatten. Die schnelle "Aufklärung" der
Fälle hatte allerdings zwei Haken: Zum einen waren dem Schuldbekenntnis
nachweislich Folterungen vorangegangen. Zum anderen stimmten die DNA-Analysen
der Leichen nicht mit den Namen der Mädchen überein, deren Ermordung sie bezichtigt
wurden (siehe ai-JOURNAL 4/2003). Als einer der ersten
Täter wurde der Öffentlichkeit im Oktober 1995 ein ägyptischer Chemiker
präsentiert - ein geradezu idealer Sündenbock: ein Ausländer, der in den USA
wegen Trunkenheit und sexueller Nötigung vorbestraft war. Die Tatsache, dass
nach seiner Festnahme allein zwischen 1996 und 1999 weitere 80 Frauen
ermordet wurden, werteten die Behörden als raffiniert inszeniertes
Ablenkungsmanöver. Insgesamt wurden bislang über 70 Tatverdächtige
festgenommen, von denen ein Teil wieder freigelassen werden musste. "Im
Gefängnis sitzt derzeit keiner, der mit den Morden direkt zu tun hat",
glaubt die renommierte US-Reporterin Diana Washington, die seit über vier
Jahren für die "El Paso Times" zu dem Thema recherchiert. Tatsache ist, dass das
Morden ohne Unterbrechung weitergeht. Ob die skandalöse Inkompetenz der
lokalen Polizei und Justizbehörden auf Ineffizienz, Frauenverachtung oder
Komplizenschaft mit den allgegenwärtigen Drogenkartellen zurückzuführen ist –
oder aber auf alles drei -, ist nicht geklärt. Fest steht jedoch, dass in
Juárez, das nur durch das Wasser des Rio Grande von seiner adretten
US-Zwillingsstadt El Paso getrennt ist, nahezu alles käuflich zu sein
scheint. "Willkommen in der Stadt der Geschäfte" werden Besucher
schon am Flughafen empfangen. An über 1.000 Umschlagplätzen können Drogen
erstanden werden, neben Pillen und Pulver gibt es allerorten billigen Sex und
Schnaps zu haben. In Ermangelung
glaubhafter Fakten über die Frauenmorde blühten in den letzten Jahren
allerhand makabre Spekulationen über Organhandel, Snuff-Pornos bis hin zu
narcosatanischen Riten gut situierter US-Kunden. Doch diese Gerüchte
entbehren bislang jeder Grundlage. Den Leichnamen fehlen keine Organe, und
auch entsprechende Pornofilme sind bislang nicht aufgetaucht. Diana
Washington glaubt vielmehr, dass es sich bei einem Großteil der Morde um eine
Art Freizeitvergnügen der Yuppies aus den Drogeneliten handelt. "Blood
sports" wird diese Art der Mordlust genannt, für die Banden und Schlepper
die Beute heranschaffen. Hintergrund ist die
Brutalisierung des lokalen Drogenhandels seit der Machtübernahme durch den
Clan um Amado Carrillo Fuentes im Jahre 1993. Nach der teilweisen
Zerschlagung der kolumbianischen Kartelle übernahm das Juárez-Kartell den
Vertrieb der südamerikanischen Ware. So wurde die Stadt in den Neunzigern zum
wichtigsten Nadelöhr für den Koks- und Heroinhandel in die USA. Damit
mutierte Juárez endgültig zum rechts- und tabufreien Niemandsland. Wurden
früher Frauen und Kinder in den blutigen Machtkämpfen der Banden weitgehend
verschont, so ist heute die Jagd auf junge, arme Frauen ebenso an der
Tagesordnung wie die demonstrative Hinrichtungen ganzer Familien. Mit Spekulationen hat
Diana Washington, die neben dem mexikanischen Journalisten Sergio Rodriguez
González als bestinformierte Expertin zum Thema gilt, wenig im Sinn. Ihre
Rechercheergebnisse, die sie im Frühjahr in dem mit Spannung erwarteten Buch
"Frauenernte - eine mexikanische Safari" erstmals der
Öffentlichkeit präsentieren wird, beruhen auf engen Kontakten zu mexikanischen
Ermittlern aus der Landes- und Bundespolizei und den Geheimdiensten. Diese
hätten im Laufe der Jahre durchaus einiges an Verbindungen zwischen
Geschäftsleuten und Drogenszene, dem Polizeiapparat und prominenten Politikern
zutage gefördert. Doch keinem der sich häufenden Hinweise, etwa den Aussagen
von verhafteten Insidern, auf die Verwicklung von Juniors aus den
Drogenkartellen und ehemaligen Polizeifunktionären, wurde weiter nach
gegangen. "Dabei wissen sie längst, wer die Mörder sind", glaubt
Washington. Sie ist die erste, die kürzlich sechs Namen in Umlauf gebracht
hat: mächtige Familien aus Juárez sowie aus dem südkalifornischen Tijuana. Grenzüberschreitend
arbeiten auch die fast zwanzig Nichtregierungsorganisationen, die sich
mittlerweile in Cuidad Juárez tummeln. An einem Strang ziehen sie jedoch
schon lange nicht mehr. Während Esther Chávez mit ihrem gut ausgestatteten
Frauenhaus "Casa Amiga" den Schwerpunkt auf innerfamiliäre Gewalt
und kulturell bedingten Machismo legt, halten unabhängige Mütterorganisationen
wie "Nuestras Hijas de Regreso a Casa" ("Die Heimkehr unserer
Töchter") diesen familiären Fokus für fatal: "Es ist eben ein
Unterschied, ob der Ehemann oder Bruder eine Frau schlägt, vergewaltigt oder
ermordet", sagt Marisela Ortiz, die Lehrerin einer ermordeten
17-Jährigen, "oder ob Mädchen auf der Straße von Wildfremden entführt
werden und dem Vergnügen mächtiger Männer dienen müssen". Die Zeit drängt. Die
Killer und ihre Nachahmer haben sich bislang kaum abschrecken lassen. Das
Morden greift mittlerweile auch auf andere Städte des mexikanischen Nordens
über. Guadalupe Morfín will mit ihrer Kommission in einem "halben
Jahr" einen ersten Untersuchungsbericht vorlegen. Ende Januar benannte
die Bundesstaatsanwaltschaft PGR endlich, wie von zivilen Organisationen seit
Jahren gefordert, eine Sonderermittlerin. Zwar gilt die erfahrene
PGR-Juristin María López Urbina aus dem Bundesstaat Coahuila nicht gerade als
Expertin in Sachen frauenspezifischer Gewalt. Im Gegensatz zur
Sonderbeauftragten Morfín wäre sie aber auch mit juristischen Befugnissen
ausgestattet. Damit die Bundesermittlerin gegen den zu erwartenden Widerstand
der Landesbehörden wirklich alle Fälle neu aufrollen könnte, bräuchte sie
allerdings das Mandat der Zentralregierung. Dazu müsste jedoch, wie der
Kriminologe Maynez sagt, Präsident Fox die Frauenmorde endlich zur Frage der
"nationalen Sicherheit" erklären - und nicht mehr nur des
"nationalen Images". Anne Huffschmid Die Autorin ist
Auslandskorrespondentin in Mexiko. -> Startseite Gruppe
B.A.S.T.A. |